Donnerstag, 21. Juni 2012

Zeichen der Religiosität II

Nachdem wir uns im letzten Teil jene Gegenstände der persönlichen Religiosität angesehen haben die durchaus bekannte moderne Entsprechungen haben, kommen wir nun also wie angekündigt zu den etwas ausgefalleneren Stücken.
Bevor wir hier allerdings ins Detail gehen noch eine kleine Anmerkung zu der schon im ersten Artikel und hier erneut als Bild gezeigten Zusammenstellung von Objekten.


Obiges Bild sollte wirklich nur als künstlich arrangierte Montage von Objekten mit religiösem Hintergrund gesehen werden, eine an einer Person summierte Repräsentation all dieser Devotionalien hätte vermutlich auch in der von Glauben und Religiosität getränkten Hochgotik leichte Verwunderung bis skeptisches Kopfschütteln ausgelöst.
So wie bei allen anderen Dingen in der Darstellungspraxis sollte auch bei den religiösen Aspekten ein repräsentativer Querschnitt gezogen werden.

Beginnen wir nun die Fortführung unseres Exkurses mit den Pilgerzeichen, sie liegen als archäologisches Fundgut recht häufig und in erstaunlicher Vielfalt vor. Sie wurden einerseits als Kennzeichnung erfolgreicher Wallfahrt auf Hut oder Tasche getragen und neben ihrer Bedeutung als profane Erinnerungsstücke auch als heil- und segenbringendes Devotional behandelt.

Die Pilgerzeichen des Mittelalters waren meist aus Zinn gegossene, flachreliefartige Objekte mit eindeutig auf den am Wallfahrtsort verehrten Heiligen zugeschnittener Symbolik.


Bei dem hier links abgebildeten Pilgerabzeichen handelt es sich um das Zeichen für den Hl. Elegius (Patron der Goldschmiede und Sattler), dessen Reliquien im Dom von Noyon, Frankreich und als Einzelreliquie in Aftholderberg, Deutschland vorliegen. Die von mir dargestellte Figur des "Niklas der Riemer", ein Wiener Gürtlermeister um 1340, trägt das Abzeichen seines zünftigen Schutzpatrons am Hut appliziert.

Das rechte Pilgerzeichen hingegen stammt aus einem der christlichen Pilgerziele schlechthin, es ist das Abzeichen der Hl. Drei Könige und war von Pilgern in Köln bei der Wallfahrt zum Dreikönigsschrein zu erwerben. Das abgebildete Pilgerzeichen ist auf einer Gürteltasche befestigt, die nach der geistigen Vorlage eines möglicherweise im Kölner Devotionalienhandels erworbenen fiktiven Erinnerungsstückes gefertigt wurde. Da ich bei meinem Besuch in Köln dank eines hervorragenden Gastgebers (Danke, Udo!) auch einige sehr vergnügte Stunden verbringen durfte ist das Erinnerungsstück andererseits gar nicht mal so fiktiv.
Bei der gestaltenden Lederprägung wurde mit dem Anbringen der kreuzförmigen Punzierungen und der das Pilgerzeichen umrahmenden Linien der Tatsache Rechnung getragen, dass das Pilgeremblem als nicht erst nachträglich appliziert erscheinen sollte.

In der religiösen Praxis noch weiter von modernen Gewohnheiten entfernt ist das nächste Objekt, ein Andachtstäfelchen in Dyptichonform. In den beiden aus Buchenholz geschnitzten Flügeln findet man auf Kreidegrund Teile der "Arma Christi", also gewissermaßen Teile des "Wappen Jesu" abgebildet, es fand seine Verwendung vermutlich bei privater Andacht und Gebet.


Im Zuge der schwierigen ersten Jahrzehnte des 14.Jahrhunderts, welche von Missernten, extremen Dürrephasen und anderen Katastrophen geprägt waren, bildet sich in der religiösen Praxis eine verstärkte Verehrung des Leiden Christi heraus die sich in der vermehrten und deutlicheren Abbildung der Passion in der gotischen Kunst wiederspiegelte. Die Einzelaspekte des Leidensweges wurden, wie auf hier auf dem Andachtstäfelchen abgebildet herausgehoben: die Dornenkrone, die durch das fahlgelb noch herausgestrichene züchtigende Hand des Juden, das Essiggefäß mit dem am Stock befindlichen Schwamm und natürlich die Wunde die Jesus am Kreuz empfing.
Das auf 1330 bis 1350 datierte Original nachdem diese vereinfachte Version entstanden ist besteht aus Elfenbein und befindet sich im Victoria & Albert Museum in London.

Beim letzten der mutmaßlichen Besitztümer die ich präsentieren möchte begeben wir uns offen und ehrlich gesagt uns bereits deutlich über die Grenzen der guten Belegbarkeit hinaus in die Grauzonen der Spekulation.


Die Vorlage dieses Objekts, nennen wir es mal Amulett, ist ein englischer Bodenfund des frühen 14.Jahrhunderts. Das im original aus Blei bestehende Kreuz habe ich hier als Knochenschnitzerei nachgebildet, es trägt die eingravierten Buchstaben "A G L A", ein Akronym für das hebräische "Atoh Gebor Leolam Adonai", in einem einfachen Versuch mal übersetzt als "O Herr, du bist auf ewig mächtig/groß". Zusätzlich zu der Verwendung eines hebräischen Akronyms auf dem christlichen Symbol schlechthin weist das AGLA-Akronym auch noch eindeutig auf kabbalistische Mystik hin, christliche Kabbalistik wird aber erst ab dem 15.Jhdt. angenommen. Ein kleines Rätsel also, und aus diesem Grund habe ich diese adaptierte Rekonstruktion für mich auch mehr in der Richtung "Aberglaube und Mystik" als in Richtung "klare,  christliche Religiosität" eingeordnet. 
Auf jeden Fall gibt es der sonst meist recht nüchtern Realitätsbetrachtung, in die man als erwachsener Darsteller europäischen Mittelalters leicht verfällt, einen Hauch jener geheimnisumwitterten Mysterienwelt wieder die bei der oftmals geforderten Ernsthaftigkeit in Bezug auf Geschichte sehr leicht verloren geht. 
Bei einer ehrlichen Betrachtung der wenigen Überlieferungen mittelalterlicher Denkungsart erfolgt dieser Verlust aber wohl zu Unrecht.

AKTUALISIERUNG: 
Mittlerweile hab ich in der Literatur (Binding Words: Textual Amulets in the Middle Ages) Hinweise darauf gefunden, dass diese Art Amulette im Spätmittelalter gar nicht so ungewöhnlich war, das AGLA-Akronym wird in einer anderen Quelle (The Portable Antiquities Scheme) als ein Zauber gegen Fieber genannt.